Was machen denn die Bayern da in Brasilien?

Was das Image von Brasilien angeht, so denkt man zunächst nicht unbedingt sofort an Oktoberfest und pommersche Folklore. Kommt man jedoch in den Süden Brasiliens, so überrascht die Region südlich von São Paulo durchaus durch ihre teilweise verwirrende europäische – und da insbesondere – deutsch-bayrische Ausrichtung.

So dringt inzwischen auch nach Deutschland durch, dass Exif_JPEG_PICTUREBrasilien mittlerweile das zweitgrößte Oktoberfest der Welt veranstaltet, direkt nach dem Oktoberfest in München. Überhaupt scheinen die Verbindungen nach Bayern in der Region besonders stark zu sein und man vermutet, dass die Region von Immigranten aus Bayern geprägt sein muss. Dieser Eindruck lässt sich aber nicht halten, denn die Einwanderer, beginnend vor rund 180 Jahren, kamen aus ganz anderen Regionen Deutschlands und hatten mit Bayern eigentlich gar nichts am Hut.

Bis zur Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal bestimmten die Portugiesen, nach den in jener Zeit üblichem Standards, die Besiedelung des Landes. Mit riesigen Landgütern wurden Menschen des Adels beglückt. Um diese Landgüter irgendwie bewirtschaften zu können fügte man dem ganzen Strafgefangene aus Europa und Sklaven aus Afrika bei, weil sich die vorgefundene indigene Bevölkerung als nicht belastbar erwies. Wer sich als Strafgefangener zwischen Adel und Sklaven positionieren wollte bedurfte keiner großen Kreativität. Das angewendete Strafregister wurde flexibel, je nachdem wie viele Plätze auf den Schiffen noch frei waren, angewendet. Ein falscher Blick zur falschen Zeit und schon war das Ticket gelöst. Mit ausreichendem militärischen Personal wurde diese Mischung anschließend unter Kontrolle gehalten.

So konnte mit der Zuckerproduktion einträglich gewirtschaftet und ein gewisser Wohlstand erreicht werden. Später lockte ein Goldrausch in Minas Gerais 1700 bis 1760 weitere Einwanderer an, die jedoch eben nicht die großen Gebiete im Süden Brasiliens besiedelten, sondern in erster Linie ihr schnelles Glück suchten.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehrten sich Aufstände gegen die portugiesische Herrschaft. Der Aufstand mit der größten Bedeutung war die „Inconfidência Mineira (Untreue der Bergwerke)“ in Minas Gerais. Deren Anführer Tiradentes (Zahnzieher = Zahnarzt) wurde 1792 hingerichtet, was aber nur zu einer kurzfristigen Beruhigung führte. Tiradentes gilt heute in Brasilien als Volksheld.

Gleichzeitig lieferte man sich im Süden auf dem Gebiet des heutigen Uruguay mit Spanien und dem Vizekönigreich des Río de la Plata verschiedene Scharmützel. Auslöser waren die Bandeirantes welche die Westgrenze des Kolonialreiches über die Linie des Vertrags von Tordesillas hinausgeschoben. Im Grunde war die südliche Region nur durch militärischen Druck zu halten, wobei manche Orte mehrfach den Besatzer wechselten und eigentlich keine Ruhe in die Dinge kam.

Spannend im Sinne der deutschen Immigration in Südbrasilien wurde die Geschichte nach der Unabhängigkeit Brasiliens 1822. Die politische Führung Brasiliens suchte nach Möglichkeiten eben die südliche Flanke zu sichern und militärisch gegenüber einer eventuellen Bedrohung durch Argentinien zu schützen. Auf die bisher im Lande vertretene Bevölkerung konnte sie da wenig bauen, denn ein großer Teil der Wirtschaft baute noch immer auf Sklaverei. Brasilien hatte mehr als 3 Millionen Sklaven aus Afrika geholt, was etwa 37 % aller nach Amerika verschleppten Afrikaner ausmachte. Erst am 13. Mai 1888 besiegelte Brasilien die endgültige Aufhebung der Sklaverei, als letztes Land der westlichen Hemisphäre.

Um nun den Süden abzusichern nutzte die brasilianische Regierung die langfristigen Folgen einer zu der Zeit in Europa grassierende Hungersnot aus. Als Ursprung dieser Not gilt das sogenannte „Jahr ohne Sommer“, oder das auch im Deutschen als das Elendsjahr „Achtzehnhundert-und-erfroren“ berüchtigte 1816. Die Ursachen dieser Katastrophe für Europa und überhaupt die gesamte nördliche Hemisphäre konnte erst 1920 durch den amerikanischen Klimaforscher William Jackson Humphreys beschrieben werden. Er sah im Ausbruchs des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien die Ursache allen Übels, denn dieser führte zu einer Verdunklung und damit verminderten Sonneneinstrahlung, was entsprechende Folgen in der Landwirtschaft nach sich zog.

Ausgelöst durch diese Katastrophe begann man in Deutschland sich intensiver mit der landwirtschaftlichen Forschung zu beschäftigen. Die zunehmende Industrialisierung in den Städten verlangte zudem nach spezialisierten Arbeitskräften. Viele Handwerker und Arbeiter aus kleineren Betrieben konnten dem nicht Stand halten und sahen sich vor dem Ruin. Die in Deutschland verfügbare Alternative bestand darin sich mit jeder verfügbaren Stelle zufrieden zu geben und der aufkommenden Industrie als billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stehen. Nicht besser die Situation in der Landwirtschaft. Denn der Einsatz neuer Maschinen erhöhte die Produktivität, was ja zur Vermeidung weiterer Hungersnöte gut war, aber auch in dem Bereich das Bedürfnis nach Arbeitskräften verringerte.

An dem Punkt setzten die Überlegungen der damaligen brasilianischen Regierung an. Man wollte bäuerliche Einwanderer aus Europa mit kostenlosem Grundbesitz anlocken. Wer einen Acker urbar gemacht hat und diesen bestellt wird eher bereit sein dieses Land zu verteidigen, als Sklaven, denen es vermutlich egal sein konnte, ob sie nun von spanischen oder portugiesischen Peinigern malträtiert wurden – so die gedankliche Leitlinie.

Nun muss man sich das aber auch nicht so wie in heutiger Zeit vorstellen, dass da irgendeine Regierung ein Angebot macht und sich alle sofort darauf stürzen. Der Prozess verlief deutlich langsamer und erfuhr in Santa Catarina erst etwas mehr Beschleunigung als ein Herr Hermann Bruno Otto Blumenau um 1848 die Bühne betrat. Rund zwei Jahre nach Beendigung seines Chemiestudiums in Erlangen und nachdem er Brasilien in der Zwischenzeit bereist hatte, beschloss die Gesellschaft zum Schutz der deutschen Auswanderer in Südbrasilien mit Sitz in Hamburg, im brasilianischen Bundesland Santa Catarina unter Leitung von Blumenau eine Kolonie zu gründen. Blumenau kehrte 1850 nach Santa Catarina zurück und gründete am 2. September des gleichen Jahres mit 17 deutschen Kolonisten im Tal des Itajaí-Açu-Flusses die Kolonie Blumenau.

Weiter im Süden, im Bundesstaat Rio Grande do Sul, setzte die Besiedelung etwas früher um 1824 um die Stadt São Leopoldo ein. Der richtige Schub aus nahezu allen Regionen Deutschlands kam aber erst so ab 1850. Betrachtet man sich die Regionen aus denen die Immigranten – oder auch Kolonisten genannt – vornehmlich stammten, so findet sich darunter nahezu jede Region Deutschlands außer eben Bayern. Eine westfälisch geprägte Gründung findet sich in Rio Grande do Sul um die Städte Teutônia und Westfalia, deren Besiedelung um 1868 begann.

An der Stelle drängt sich noch einmal und durchaus heftiger die Frage auf, was denn nun die Bayern da in Brasilien mit der Sache zu tun haben? Immerhin scheint heute die bayrische Kultur doch dort zu dominieren. Und das obwohl da gar keine, bzw. eine zu vernachlässigende Anzahl von Nachfahren bayrischer Immigranten leben?

Die Nummer mit dem mittlerweile zweitgrößten Bierfest der Welt im Stile eines bayerischen Oktoberfestes hat ihren Ursprung in einer Tragödie. 1983 wurde die Region um Blumenau von einer verheerenden Flut heimgesucht. Die Stadt hat, wie bereits zur Zeit ihrer Gründung, auch heute noch mit schweren Überschwemmungen und Hochwasser von bis zu 17,1 m zu kämpfen. Durch Blumenau fließt in einem Exif_JPEG_PICTUREschmalen Tal der Fluß Itajaí-Açu, in dem sich westlich von Blumenau sämtliche Regenfälle sammeln. Dadurch kommt es nach längeren Regenphasen regelmäßig zu einem erheblichen Anstieg des Wasserpegels und oft tritt das Wasser über die Ufer. Dieser Anstieg alleine stellt nur einen Teil des Problems dar. Parallel zu dem Anstieg des Wassers im Flussbett tränken sich auch die umliegenden Hügel durch den andauernden Regen mit Wasser, so dass es zu gefährlichen Erdrutschen und Flutwellen kommen kann unter denen ganze Häuser verschwinden können.

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Eben das geschah auch 1983. Viele Menschen verloren ihr Leben und manche Existenz war ruiniert. Die Trauer und Niedergeschlagenheit war gewaltig. Viele wollten fort ziehen und ihre Heimat aufgeben. So stellte sich die Stadtverwaltung die Frage, wie man erstens die Wirtschaft wieder auf die Beine stellen und zweitens die Moral der Bevölkerung wieder herstellen könne. (Die hier gezeigten Bilder und nachfolgenden Videos stammen von der letzten Flutkatastrophe in Blumenau aus dem Jahr 2008, bei der 135 Menschen in Santa Catarina ihr Leben verloren. Einige blieben vermisst. Das letzte Bild (oben) zeigt einen Ort, an dem zuvor fünf Häuser standen. Alle Bewohner kamen ums Leben.)

Man entschied sich für einen drastischen Schritt. In Anlehnung an das Münchener Original wurde im Folgejahr 1984 das erste Oktoberfest in Blumenau abgehalten. Das Fest war ein voller Erfolg, entwickelte sich in den Folgejahren prächtig und wurde zu einem Aushängeschild für die Region. Inzwischen hat sich das Fest mit über 600.000 Besuchern als das nach dem Karneval in Rio zweitgrößte Volksfest Brasiliens und zu einem noch wichtigeren Fest für ganz Südamerika etabliert. Dies hat den Bekanntheitsgrad der Stadt auch in Deutschland gesteigert, was im Hinblick auf den Tourismus von erheblicher Bedeutung ist.

Dieser Erfolg blieb natürlich nicht unbemerkt bei den Nachbarn der Region oder in anderen Städten in Südbrasilien. Immerhin hatte man dort doch auch deutsche Wurzeln. Was lag da näher, als das Konzept zu übernehmen und auch vergleichbare Feste zu veranstalten?

So kommt es, dass die Nachfahren überwiegend mittel- und norddeutscher Kolonisten heute in vielen Orten Brasiliens für das Feiern bayrischer Feste berühmt sind. Die Zusammenarbeit zwischen den Oktoberfesten in München und Blumenau funktioniert. Viele Bands, die zuvor auf dem Münchner Oktoberfest aufspielten setzen ihre Arbeit direkt in Blumenau fort. Als „typische Bekleidung“ während des Oktoberfests in Blumenau gelten der bayrischen Tracht nachempfundene Kostüme und Anzüge. Das geht inzwischen so weit, dass in Blumenau mittlerweile ein Streit darum entstanden ist, was denn nun „Typische Bekleidung“ sei. Nur wer diese „Typische Bekleidung“ trägt bekommt freien Eintritt zum Oktoberfest. Einig ist man sich inzwischen, dass Trachtenhemd oder -bluse zusammen mit Jeans auf keinen Fall „Typisch (Deutsch)“ sei.

Was hingegen pommersche und weitere nord- und mitteldeutsche Trachten und Folklore angeht ist das Bild stimmig, denn das passt zur Vorgeschichte vieler Immigranten und das hätten sie auch ohne ein Oktoberfest weiter behalten. Allerdings garantiert das keinen freien Zugang zum Festgelände des Oktoberfests. 😉

Auch wenn in Blumenau das inzwischen bekannteste Oktoberfest Südamerikas gefeiert wird, so waren die Blumenauer nicht die ersten, die auf die Idee eines solchen Festes kamen. Bereits 1978 kamen einige Bürger der Stadt Itapiranga in Santa Catarina auf die Idee ein Fest nach dem Münchener Beispiel zu feiern und sie behaupten von sich die ersten gewesen zu sein, die ein solches Fest in Brasilien ausgerichtet haben. Es mag sein, dass dies für die Parallelen zum bayerischen Fest gilt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es auch schon vor jener Zeit Feste der Immigranten gegeben haben muss, in welchen die Traditionen ihrer deutschen Herkunft gepflegt wurden. Nur stand bei denen womöglich die bayerische Tracht als Synonym deutscher Kultur nicht so ganz stark im Vordergrund, wie das heute der Fall ist.

Oktoberfeste werden inzwischen in vielen Ländern Südamerikas gefeiert. Mal sind es Feste von Vereinen in kleinem Maßstab und mal auch Feste, die gesamte Ortschaften einbinden. So finden sich regelmäßig gefeierte Oktoberfeste in Argentinien, Chile, Uruguay und sogar in Peru und sicherlich weiteren Ländern Südamerikas.

Der Begriff „Oktoberfest“ steht inzwischen weltweit für eine gelungene Feier und ihren wirtschaftlichen Erfolg. Das reizt sogar in Deutschland zum Nachmachen; selbst in Regionen, welche die Bayern als „Prreißen“ verschmähen! Aber was will man machen, wenn man eigene traditionelle Kulturen nicht oder nur unzureichend gepflegt hat? 😉


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